8. Verbindungen und Bedürfnisse

Abschnitt 8.1 setzt sich mit dem für das Buch zen­tralen Be­griff der Ver­bin­dung aus­ein­ander. Dieser be­schreibt etwas Ähn­li­ches wie eine Be­ziehung, er­laubt aber mehr Fle­xi­bili­tät, wel­che Per­sonen in wel­cher Wei­se ein­be­zo­gen wer­den. Zudem haben Ver­bin­dungen im­mer einen in­klu­sions­­­logi­schen Kern, es gibt also (reine) Exklu-Be­ziehungen, aber keine (rei­nen) Exklu-Ver­bin­dungen. Mit Bezug auf Adamczak (BR) wird der konzep­tionelle Ausgangs­punkt einer Utopie und somit der entsprechenden Trans­for­ma­tion in den Verbindungen bzw. Beziehungen der Menschen lokalisiert. Dabei werden einerseits die Vorteile gegenüber einer tätigkeit­s­orientierten Utopie aufgezeigt, und andererseits, warum der Verbindungs­begriff für diese Konzeption noch geeigneter ist als der Beziehungs­begriff.

In 8.2 wird die Bedürfnis­kon­zep­tion der Kri­ti­schen Psy­cho­lo­gie dis­ku­tiert, d.h. die Unter­schei­dung zwi­schen pro­duk­tiv und sinnlich-vital, und der unter­schied­li­che Ge­brauch dieser Ka­te­gorien bei H.-Oster­kamp und Holz­kamp (näm­lich, dass H.-Oster­kamp produk­tive und sinnlich-vitale Bedürf­nisse unter­scheidet, Holz­kamp hin­gegen pro­duk­tive und sinn­lich-vitale As­pek­te al­ler Be­dürf­nisse). Mit Ver­weis auf die Sinn­liche Er­kennt­nis (SE) wird ar­gu­men­tiert, dass die Sicht­weise von der Dimen­sion des Ge­nusses und der Di­men­sion der Ver­fü­gung nicht weit genug geht, da der Ge­nuss selbst auch wiede­rum pro­duk­tiv ist, und sich die pro­duk­tiven As­pekte der Be­dürf­nisse nicht nur auf den be­wer­te­ten Zu­stand selbst, sondern auf die ge­samte per­sönliche Hand­lungs­fähig­keit be­ziehen sollten.

Abschnitt 8.3 führt schließ­lich das Kon­zept der Be­dürf­nisse in Ver­bin­dung ein, wel­ches ei­nen Para­dig­men­wechsel weg von Be­dürf­nissen als Eigen­schaf­ten des Indi­viduums hin zu Ei­gen­schaf­ten von Ver­bin­dungen be­gründet. Nach die­ser Kon­zep­tion von Ver­bin­dungs­­be­dürf­nissen habe in aller Re­gel nicht ich* ein Be­dürf­nis, sondern es gibt immer ein wir*, das et­was will; das Be­dürf­nis exis­tiert nicht ohne die Ver­bin­dung und kann nur in der Ver­bin­dung voll­ständig be­friedigt wer­den. Aus­nahmen hier­von sind le­dig­lich die rein kör­per­lichen (sinnlich-vitalen) Be­dürf­nisse sowie das ab­strak­te Be­dürf­nis nach Ver­bun­den­heit selbst. Um­ge­­kehrt exis­tiert auch keine Ver­bin­dung ohne die ge­mein­samen Ver­bin­dungs­­be­dürf­nisse: Die Be­dürf­nisse sind die Ver­bin­dung. Zum Ab­schluss wird das Kon­zept an den Bei­spielen des Ar­beits­markts, des Waren­markts und der Werbung illus­triert.

In 8.4 wird schließlich genauer un­ter­sucht, wie sich Ver­bin­dungs­­be­dürf­nisse je­weils für das In­di­viduum und in der Ver­bin­dung in Form von Wün­schen, Visionen und Zielen mani­fes­tieren. Zen­tral ist hier­bei der Ge­danke, dass die Vor­stellungen, die das Indi­viduum von der so­zialen Er­füllung hat, noch nicht selbst seine Be­dürf­nisse sind, sondern viel­mehr Kom­pe­tenzen dar­stellen, um in der Ver­bin­dung die ei­gent­lichen Be­dürf­nisse erst noch heraus­zu­bilden.

8.1.1 Die beziehungsorientierte Utopie

Bei einer arbeit­sorien­tier­ten Uto­pie, wie wir sie ganz klas­sisch z.B. aus dem uto­pi­schen So­zia­lis­mus kennen (vgl. Buber 1958), ist meine* erste Ent­schei­dung stets, welche Tä­tig­keit ich* aus­führen werde; folg­lich wird mein* so­zia­les Um­feld, mein* Be­zie­hungs­kom­plex dann im We­sent­li­chen dadurch be­stimmt, welche An­deren ich* bei meinen* Tä­tig­kei­ten so treffe; auch ist die Qua­li­tät der Be­zie­hungen, die Be­ziehungs­weise, we­sent­lich davon ab­hängig, welche Ar­ten sich zu ver­bin­den durch die Tä­tig­keiten und deren Or­ga­ni­sa­tion nahe­ge­legt werden.

Die Arbeit auf diese Weise in den Mittelpunkt des Lebens zu rücken, stellt die Zweck-Mittel-Umkehr des Exklu-Systems dar (vgl. Krisis 1999); diese Fetischisierung darf in der Utopie nicht reproduziert werden. Vielmehr braucht es eine erneute Umkehr in die andere Richtung, eine Negation der Negation.

Die Or­­ga­­ni­­sa­­tion der Ge­sel­l­schaft und die Inte­gra­tion der Menschen in die Ge­sell­schaft muss sich also an dem fest­machen, was das gesell­schaft­liche Leben tat­säch­lich ausmacht, also wofür es sich zu leben lohnt; dies darf nicht länger als by-product von ge­sell­schaft­li­chen Pflich­ten ge­hand­habt werden, sondern muss zur offi­ziel­len Haupt­sache erklärt werden.[1]

Wir brauchen also eine Zweck-Mittel-Umkehr [da­hin­geh­end], dass all das, was im Kapi­ta­li­smus zur Hinter­grund­be­dingung und zum Mittel (für die Re­pro­duk­tion der Ar­beits­kraft) de­gra­diert ist – Essen, Wohn­en, Ler­nen, Aus­ruhen, Ent­falten, Ge­stalten, Spaß haben, mit sich selbst und anderen klar­kommen – in einer ver­nünf­tigen Gesell­schaft zum Selbst­zweck wird. (Lutosch 2021)

Es braucht eine beziehungs- bzw. ver­bin­dungsorien­tier­te Uto­pie, bei der an­stelle meiner* Ar­beit an erster Stelle die Men­schen stehen, mit denen ich* ver­bun­den bin oder sein möchte. Die Ver­bin­dung darf nicht Mittel zum Zweck sein; sie darf auch keinen Zweck voraus­setzen, der die Ver­bin­dung zu­sam­men­hal­ten muss, sondern sie muss selbst der ulti­ma­tive Zweck sein, aus dem alles andere ent­springt:

Die freie Asso­zia­tion bildet … nicht nur Mittel, son­dern zu­gleich Zweck und Lebens­atmosphäre [der] Be­dürf­nis­be­frie­di­gung. Das unter­scheidet … die Bestä­ti­gung kom­mu­nis­tischer Be­ziehungen von zu­sam­men­hal­ten­den ex­ter­nen Zielen, wie dem Wohl einer Nation, dem König­reich Got­tes usw. Das Ziel der mensch­lichen Be­ziehung liegt nicht außer­halb von ihnen, sondern inner­halb. … Es ist keine inner­mensch­liche Natur, die ver­äußer­licht und ver­wirklicht zu werden braucht. Es ist die zwischen den Men­schen liegende Be­ziehung, die das Ziel der Be­ziehung dar­stellt. (BR 271f)

Diese Be­ziehungen der Inklu, die zum Selbst­zweck exis­tieren und die Orga­ni­sa­tion des ge­samten Ge­sell­schafts­systems aus sich heraus be­dingen, müssen sich von allen im be­stehen­den System bekann­ten Be­ziehungs­weisen ab­heben, oder anders aus­ge­drückt, sie müs­sen die ver­schie­denen, ein­seitig-funktio­nalen be­stehen­den Be­ziehungen in sich auf­he­ben. Das heißt, dass Be­ziehungen, um mensch­lich zu sein, eben­so sehr freund­schaft­lich und liebe­voll wie mate­riell gesät­tigt sein müss­ten (BR 272), wes­halb [d]ie re­vo­lu­tio­näre Re­konstruk­tion … nicht bei den Be­ziehungs­weisen Ware und Liebe, Markt und Familie ver­harren [kann], son­dern [sie] wird zu­gleich die Be­ziehungs­weisen Staat, Büro­kra­tie, Partei, Verein, Freund*in­nen­schaft durch­kreuzen, mischen, re­kom­bi­nieren, kurz quee­ren wollen. (BR 285)

8.1.2 Der Verbindungs-Begriff

Der Begriff der Be­ziehung(s­weise) ist bes­ser ge­eig­net um über Uto­pie und Trans­for­ma­tion nach­zu­den­ken als eine Auf­lö­sung der Ge­sell­schaft in In­di­vi­duen. Er ist aber noch nicht ideal. Denn eine Be­ziehung wird in der Re­gel als (nur) zwi­schen zwei Men­schen be­stehend ge­dacht (oder zwi­schen zwei Grup­pen, Par­teien, Par­tner*in­nen). Wenn auch in Aus­nah­me­fäl­len mal von einer Be­ziehung zwi­schen mehr als zweien ge­spro­chen wird, so han­delt es sich da­bei doch stets um einen ge­schlos­senen Per­so­nen­kreis, um eine Clique, in der (un­dif­feren­ziert) jede*r auf jede*n be­zogen ist.

Die Un­ter­su­chung von Be­ziehungen sugge­riert also nach wie vor eine Art von Ver­ein­zelung, in dem Sinne dass die Ge­sell­schaft in Cliquen auf­ge­löst wird, die von­ein­ander nichts wis­sen.

Am offen­­sicht­­lichs­­ten wird dies am Bei­spiel der Sphä­ren­tren­nung (i.e.S.): Wir* sind in ver­schie­de­ne beruf­liche und pri­vate Be­ziehungs­cliquen in­vol­viert; die be­ruf­lichen und pri­vaten wis­sen aber von­ein­ander nichts (bzw. kaum etwas) und be­ziehen die Be­dürfnisse der jeweils anderen Cliquen nicht ein. (Dies wird in Ka­pi­tel 14 noch aus­führ­lich dis­ku­tiert.)

Mit dem Beziehungs­be­griff kann daher der Um­stand nicht er­fasst werden, dass zwei Men­schen, zu de­nen ich* je­weils eine in­ten­sive Be­ziehung pfle­ge, un­ter­ein­ander eine eben­so in­ten­sive Be­ziehung haben können, oder eine we­sent­lich lockerere, oder aber gar keine; oder dass zwei Men­schen, zu denen ich* in sehr unter­schiedli­chen Be­ziehungen stehe, unter­ein­ander selbst eine Be­ziehung der einen oder der anderen Art haben kön­nen, oder eine ganz andere, oder gar keine. Und wenn zwi­schen ihnen eine Be­ziehung be­steht, dann kann diese aus dem­sel­ben Grund bestehen wie die Be­ziehungen mit mir*, aus einem *ver­wandten* Grund oder aus einem völ­lig ande­ren.

Wenn die ande­ren eben­falls in einer Be­ziehung stehen, dann ist das Ganze mehr als die Sum­me seiner Teile: Es be­stehen dann nicht bloß drei ein­zelne Be­ziehungen zwi­schen je zwei Per­sonen, sondern diese Be­ziehungen sind selbst wiederum auf­ein­ander be­zogen. Es kann z.B. auch sein, dass eine Be­ziehung durch eine andere Be­ziehung ver­mit­telt ist (siehe Ka­pi­tel 5 und 10); dann ge­hören die Ein­zel­be­ziehungen zu einem Be­ziehungs-Gesamt­ge­flecht, haben aber da­rin sehr unter­schied­liche Rollen. Es folgt also nicht, dass wir* alle drei in einer Be­ziehung stehen, da ja Be­ziehungen gänz­lich unter­schied­licher Quali­tät hier invol­viert sein kön­nen. Das Ganze stellt etwas Be­ziehungs­artiges dar, ist aber selbst keine Be­ziehung im ge­bräuch­lichen Sinne.

Der Begriff der Ver­bindung (oder Ver­bunden­heit, so­zialer Kon­text) durch­bricht die Enge, die Ein­ge­schworen­heit, die Ver­schlossen­heit und Mystik der Be­ziehungen. Da Ver­bin­dungen selbst in Ver­bin­dung stehen, somit Teil von grö­ße­ren Ver­bin­dungen sein kön­nen und sich zu grö­ße­ren Ver­bin­dungen ver­ei­ni­gen können, kommt im Ver­bin­dungs­be­griff die ge­sell­schaft­liche Ein­ge­bun­den­heit der Be­ziehung zum Aus­druck, also ihre Ver­mittelt­heit; damit die grund­sätz­lich trans­perso­nale Natur aller Be­ziehungen (siehe Kapi­tel 10). Es ist diese Ver­mittelt­heit – der Ge­danke, die Be­ziehung nicht in Iso­la­tion, son­dern selbst in Be­zie­hung bzw. Ver­bin­dung zu be­trach­ten, der uns auf­zeigt, wo­durch ihre Charak­te­ris­tik zu­stande kommt und welche Mittel zu ihrer Ge­stal­tung zur Ver­fü­gung stehen. Hinter jeder Be­ziehung (mit inklu­sions­lo­gischem Kern, siehe gleich) steht also eine Ver­bindung, die über die bloße (iso­lierte) Be­ziehung hinaus­geht.

Und noch eine wesent­liche Unter­schei­dung wollen wir zwi­schen Ver­bin­dungen und Be­ziehungen tref­fen: Ver­bin­dungen sind grund­sätz­lich – zu­min­dest teil­weise – posi­tiv, ha­ben einen inklu­sions­lo­gischen Kern, der in ge­mein­samen Be­dürf­nis­sen, genannt Ver­bin­dungs­be­dürf­nis­se besteht (Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse werden in Abschnitt 8.3 im Detail er­läutert). Diesen inklu­sions­lo­gischen Kern der Ver­bindung be­zeich­nen wir auch als Ver­bindung i.e.S.. Alle Ver­bunden­heit i.e.S. ist somit Inklu.

Um über­haupt eine Ver­bindung zu konsti­tu­ieren, braucht es also einen inklu­sions­lo­gischen Kern. Es gibt somit keine rein anta­go­nis­tischen Ver­bin­dungen. Von daher bin ich* mit den Men­schen am anderen Ende der Welt, die für die Her­stel­lung meiner* Pro­dukte aus­ge­beutet werden, nicht ver­bunden, wohl aber mit jenen, die unter fairen Be­dingungen ohne Zwangs­lage für mich* pro­du­zieren, weil sie (auch) selbst ein Be­dürf­nis haben, das Produkt zu schaf­fen, bzw. es in einer be­stimm­ten Her­stellungs­weise zu schaffen etc., wenn dies Vor­stel­lungen sind, die mei­nen eige­nen ent­sprechen und einen ge­mein­samen Ur­sprung mit ihnen ha­ben.

Es sollte aber auch klar sein, dass zu jeder Ver­bindung neben dem inklu­sions­logischen Kern auch rein orga­ni­sa­torische, ver­mutlich sogar rivale Aspekte ge­hören. Sie ge­hören in­sofern zur Ver­bindung, als dass sie materielle Grund­be­dingungen oder Stör­fak­toren dar­stellen, mit denen sich die Ver­bindung aus­ein­ander­setzen muss. Die Ver­bindung mit­samt all diesen Facet­ten be­zeich­nen wir ent­sprechend als Ver­bindung i.w.S.

Verbundenheit ist also immer auch inklu­sions­logisch, da sie einen inklu­sions­logischen Kern, die Ver­bindung i.e.S. bein­haltet. Wir können aber die Inklu-Dimen­sionen aus Kapitel 1 heran­ziehen, um zu analy­sieren, wie inklu­sions­logisch die Ver­bindung i.e.S. tatsächlich ist. Wir würden dann von einer Inklu- oder Exklu-Verbindung i.e.S. sprechen, je nachdem, auf welcher Seite der vier Dimen­sionen wir uns über­wiegend be­finden.

Wenn wir hin­gegen von einer Inklu- oder Exklu-Ver­bindung i.w.S. sprechen, dann ist damit im Wesent­lichen (auch) gemeint, welchen Raum der inklu­sions­logische Kern innerhalb der ge­samten Ver­bindung i.w.S. ein­nimmt, also wie­viel Exklu­sions­linien für den inklu­sions­logischen Kern der Ver­bindung in Kauf ge­nommen werden müssen.

Exklu-Verbundenheit ist das (häufi­ge) Phä­no­men, irgend­wo einen Kern einer Ver­bindung zu haben, den es zu be­wahren gilt, diesen je­doch gegen immer­währen­de Kon­flikte, Macht­ge­fälle, Ein­schränkungen, Ohn­mächtig­keiten, Ge­fahren etc. ver­teidi­gen zu müssen.

Die Bedürfnisse eines Individuums bestimmen den eigenen inneren Zustand und die resultierende Handlungsbereitschaft – artikuliert etwa als Wunsch, Streben, Antrieb oder Verlangen. (KA 122) In diesem Sinne wird das Wort Bedürfnis in diesem Buch als Oberbegriff für sämtliche Wol­lens­dis­po­si­tionen ver­wen­det, so­wohl im Sin­ne des Be­stre­bens als auch des Befindens.

Mit mensch­li­chen Be­dürf­nis­sen hat sich die Kriti­sche Psycho­lo­gie, aus­gehend von Ute H.-Oster­kamps Grund­lagen­werk (M II) hin­läng­lich aus­ein­an­der­ge­setzt. Zen­tral ist die Diffe­ren­zie­rung zwi­schen sinnlich-vitalen und produk­tiven Be­dürf­nis­sen:

[A]uf der einen Seite stehen die Bedürf­nis­se, die die emo­tio­nale Grund­lage für Kon­trol­le [sic] der Lebens­be­dingungen, d.h. – auf mensch­lichem Niveau – für die Ten­den­zen zur Teil­habe an ge­sell­schaft­licher Reali­täts­kon­trolle und koope­ra­tiver Inte­gra­tion bilden. Dieses Be­dürf­nis­sys­tem wird von uns mit dem Ter­mi­nus der pro­duk­ti­ven Be­dürf­nis­se um­schrie­ben. Die pro­duk­tiven Be­dürf­nis­se sind auf den Erwerb der Kon­trol­le über die re­le­van­ten Lebens­be­dingungen ge­rich­tet und um­fas­sen alle Ten­den­zen zur Aus­deh­nung be­stehen­der Umwelt­be­ziehungen, somit also auch der so­zialen Be­ziehungen, und zwar in ihrem Doppel­aspekt: als Teil der zu er­kun­den­den Um­welt, aber auch als über die Koope­ra­tions­be­ziehung er­mög­lich­te Er­wei­te­rung der Basis dieser Um­welt­be­geg­nung und Er­höhung der damit ver­bunde­nen Er­leb­nis­fähig­keit… .

Den pro­duk­ti­ven Be­dürf­nis­sen stehen als zweites Be­dürf­nis­system Be­dürf­nisse gegen­über, die sich nicht auf die ge­sell­schaft­liche Ab­siche­rung der indi­vidu­ellen Exis­tenz­er­haltung be­ziehen, son­dern in denen sich die indi­vidu­ellen Mangel- und Spannungs­zu­stände selbst aus­drücken, für deren Redu­zierbar­keit durch die Teil­habe an ge­sell­schaft­licher Reali­täts­kon­trolle vor­ge­sorgt werden soll, die also Indi­ka­toren für die un­mittel­bare Ge­fähr­dung, Beein­träch­ti­gung o.ä. der indi­vidu­ellen Exis­tenz sind. Diese Art von Be­dürf­nissen … sollen als sinnlich-vitale Be­dürf­nisse be­zeich­net werden[.] (M II, 22, Um­bruch hinz.)

Die sinnlich-vitalen sind also die un­mittel­baren, physi­schen Be­dürf­nisse, während die produk­tiven Be­dürf­nisse auf einer höheren Meta-Ebene an­ge­sie­delt sind, d.h. sich auf Siche­rung der zu­künf­tigen Er­fül­lung anderer (produk­tiver oder sinnlich-vi­taler) Be­dürf­nisse (Kon­trolle über die Lebens­be­dingungen) richten bzw. dazu ge­eignet sind, diese zu ge­währ­leisten.

Anders als der Name ver­mu­ten lässt, müs­sen sich pro­duk­tive Be­dürf­nisse dem­nach nicht darauf rich­ten, tat­säch­lich etwas zu pro­du­zieren bzw. einen (pro­duk­tiven) Bei­trag für die Ge­sell­schaft zu leis­ten. Viel­mehr sollte das Adjek­tiv pro­duk­tiv hier so ver­stan­den werden, dass diese Be­dürf­nisse pro­duk­tiv für das Sub­jekt selbst sind. Ins­be­son­dere sind unter die pro­duk­tiven auch sämt­liche so­zialen Be­dürf­nisse zu fas­sen:[2]

Wir hatten deshalb auch die Ter­mini ge­sell­schafts­be­zo­gene Be­dürf­nisse und die Sam­mel­be­zeich­nung Kontroll- und Sozial­be­dürf­nisse in Er­wä­gung ge­zogen, aber als zu global bzw. zu wenig aus­sage­kräftig wieder ver­worfen. Der Be­griff produk­tive Be­dürf­nisse … ist nur richtig zu ver­stehen, wenn man sich deut­lich macht, daß damit die phylo­ge­netisch ge­wordene und ge­sell­schaft­lich ent­wickelte selb­stän­dige Be­dürf­nis­grund­lage für indi­vi­duelle Bei­träge zu ge­sell­schaft­licher Reali­täts­kon­trolle, also in diesem Sinne das sub­jek­tive Be­we­gungs­mo­ment ge­sell­schaft­licher Pro­duk­tion gemeint ist; dabei sind aber, wie sich zeigen wird, die Mög­lich­keiten zur ge­sell­schaft­lich ver­mittel­ten Ver­besse­rung der Kon­trolle über die eige­nen Lebens­be­dingungen und Inte­gra­tion, damit zu pro­duk­tiver Be­dürf­nis­be­friedi­gung, nicht nur inner­halb des ge­sell­schaft­lichen Pro­duk­tions­bereichs ge­geben, sondern auch in Lebens­situa­tionen außer­halb der Produk­tion, z.B. der kind­lichen Ver­ge­sell­schaftung als Vor­be­rei­tungs­phase, aber auch in der »sym­boli­schen« Teil­habe an kumu­lierter ge­sell­schaft­licher Er­fahrung bzw. in Bei­trägen zu ihrer Ver­dich­tung und Ver­all­ge­meine­rung in künst­le­rischer Re­zep­tion bzw. Aktivi­tät, etc. (M II, 23)

Letztendlich kann die indi­vi­du­elle Sicht auf Pro­duk­tivi­tät aber wohl mit ge­sell­schaft­licher Pro­duk­tivi­tät – zumindest in einem be­schränk­ten so­zialen Um­feld – gleich­ge­setzt wer­den, da sich die eige­nen Be­dürf­nisse nicht ohne Ein­bindung in das so­ziale Um­feld und damit Er­bringung eines (wie auch immer ge­arte­ten) ge­sell­schaft­lichen Bei­trags erfüllen lassen werden:

Wenn wir der­ge­stalt die pro­duk­tiven Be­dürf­nisse in ihrem Ver­hält­nis zu den Sinnlich-vitalen Be­dürf­nissen als Spe­zifi­kum der mensch­lichen Bedürfnis­ver­hält­nisse heraus­gestellt haben, so sind, wenn dies richtig ver­standen werden soll, zu­vorderst zwei Arten von Miß­ver­ständ­nissen zu ver­meiden: Zum einen darf man die produktiven Be­dürf­nisse nicht als ver­selb­ständig­tes Pro­duk­tions­be­dürf­nis, Be­dürf­nis der Indi­viduen zum Pro­duk­tiv­sein etc., etwa nach Art des huma­nis­tisch-psycho­logi­schen Wachstums– oder Selbst­ver­wirk­li­chungs-Be­dürf­nisses, miß­deuten. Mit Pro­duk­tion ist in unserem Termi­nus nicht irgend­eine indi­vidu­ell-krea­tive Aktivi­tät, sondern der gesamt­gesell­schaft­liche Pro­duk­tions- und Re­pro­duk­tions­prozeß an­ge­sprochen, und die Be­dürf­nis­grund­lage der indi­vidu­ellen Teil­habe an der Ver­fügung über den ge­sell­schaft­lichen Pro­duk­tions-/Re­pro­duk­tions­pro­zeß ergibt sich aus dem Um­stand, daß auf der Stufe ge­samt­ge­sell­schaft­licher Ver­mittelt­heit indi­vidu­eller Exis­tenz das Indi­viduum nur auf diesem Wege (nach Maß­gabe seiner Lage- und posi­tions­spe­zifischen Mög­lich­keiten) Ver­fügung über seine eige­nen rele­vanten Da­seins­be­dingungen und Lebens­quellen er­reichen kann. Die indi­vidu­elle Pro­duk­tivi­tät ver­schiedener Art ist dem­gegen­über ledig­lich ein mög­licher Aus­druck der über den Bei­trag zur ver­all­ge­meinert-ge­sell­schaft­lichen Lebens­ge­winnung und -entfal­tung zu ent­wickeln­den perso­nalen Hand­lungs­fähig­keit, also eine be­sondere Reali­sierungs­form produktiv-sinnlicher Be­dürf­nisse.

Zum anderen darf die gene­tische Her­kunft der produk­tiven Be­dürf­nisse aus dem ge­schilder­ten globalen Kon­troll­bedarf nicht zu dem Fehl­schluß ver­leiten, das pro­duk­tive Be­dürf­­nis sei ein­fach ein Kon­troll­be­dürf­nis, der Mensch habe genu­in den An­trieb, seine Le­bens­be­dingungen zu kon­trol­lieren, o.ä.. Wie unsere Ana­lyse ergab, hat sich der ge­lernte Kon­troll­bedarf mit der Heraus­bildung und Durch­setzung der ge­sell­schaft­lichen Lebens­ge­winnungs­form ver­allge­meiner­ter Vor­sorge etc. ja gerade zur Be­dürf­nis­grund­lage einer quali­ta­tiv neuen, mensch­lichen Exis­tenz­weise, nämlich der be­wuß­ten Ver­fü­gung über die eigenen Lebens- und Be­frie­di­gungs­quel­len, ent­wickelt. Die Teil­habe an der Ver­fü­gung (Kon­trolle) über die ge­sell­schaft­lichen Lebens­be­dingungen ist also kein Selbst­zweck, sondern wesent­liche Quali­tät der mensch­lichen Weise indi­vidu­eller Be­dürf­nis­be­friedi­gung und Da­seins­er­füllung. Wo Kon­trolle sich als indi­vidu­elles Streben ver­selb­ständigt, ist dies hin­gegen ein spe­zielles Symp­tom der Iso­lierung des Indi­viduums von den gesell­schaft­lichen Ver­fügungs­möglich­keiten, damit Möglich­keiten der Angst­über­windung, also gerade der perso­nalen Un­fähig­keit, wirk­li­che Ver­fügung über die rele­vanten Lebens­be­dingungen, damit mensch­liche Lebens­quali­tät zu er­langen [vgl. dazu H.-Osterkamp 1983].

Zur Zu­spitzung dieser Aus­führungen läßt sich der be­rühmte Marx­sche Satz von der Arbeit als erste(s) Lebens­be­dürfnis (MEW 19, S. 21) durch folgen­den Kommen­tar aller Miß­deu­tungen ent­heben: Nicht die Arbeit als solche ist erstes Lebens­be­dürf­nis, sondern Arbeit nur soweit, wie sie dem Einzel­nen die Teil­habe an der Ver­fügung über den ge­sell­schaft­lichen Pro­zeß erlaubt, ihn also hand­lungs­fähig macht. Mithin ist nicht Arbeit, sondern Hand­lungs­fähig­keit das erste mensch­liche Lebens­be­dürfnis – dies des­wegen, weil Hand­lungs­fähig­keit die all­ge­meinste Rahmen­quali­tät eines mensch­lichen und menschen­würdigen Daseins ist, und Hand­lungs­un­fähig­keit die all­ge­meinste Quali­tät mensch­lichen Elends der Aus­ge­liefert­heit an die Ver­hält­nisse, Angst, Un­frei­heit und Er­niedri­gung. (GdP 242f, tw. zit. in GL Kap. 9.4 & Markard 2009, 198)

Holzkamp verwendet die Be­grif­fe produk­tiv und sinnlich-vital in Bezug auf Be­dürf­nis­se in einem ähn­li­chen, aber leicht ab­ge­wan­del­ten Ver­ständ­nis von H.-Oster­kamp. So kenn­zeich­ne[t] [er] in Über­nahme dieser Ter­mi­no­lo­gie den koopera­tiven bzw. pri­mären Aspekt der Be­dürf­nis­ver­hält­nisse … in ihrer Be­sonder­heit auf der Stufe ge­samt­ge­sell­schaft­licher Ver­mittelt­heit indi­vidu­eller Exis­tenz als pro­duk­tiven und sinnlich-vitalen Aspekt mensch­licher Bedürfnis-Ver­hält­nisse. (GdP 242, Herv. orig.)

Bedürfnisse werden also nicht in sinnlich-vitale und pro­duk­tive ein­ge­teilt, son­dern alle Be­dürf­nisse be­sitzen neben der sinnlich-vitalen Dimen­sion des Ge­nusses immer auch die produk­tive Dimen­sion der Ver­fügung. Aktuell vor­hande­nes Essen ge­nießen zu können, ist die eine Seite, dauer­haft über Essen ver­fügen zu können, die andere. … Hunger scheint bloß sinnlich-vital zu sein, aber Hunger ge­winnt v.a. dann seine zer­störe­rische Kraft, wenn ich keine Mög­lich­keiten habe, durch so­ziale Teil­habe über meine Lebens­be­dingungen so zu ver­fügen, dass ich in Zu­kunft keinen Hunger mehr haben muss. (KA 127f, Herv. geändert)

Aber auch diese Interpre­ta­tion der Ter­mi­ni produk­tiv und sinnlich-vital kann noch nicht die ulti­ma­tive Wahr­heit sein, denn auch der Ge­nuss, also das Sinn­liche selbst, ist bereits pro­duk­tiv, also auf Er­wei­te­rung der Hand­lungs­fähig­keit aus­ge­rich­tet, so die Ru­bin­stein­sche Beobach­tung, welche in Holz­kamps Sinnlicher Er­kennt­nis (SE) auf­ge­griffen wird:

Die mensch­li­che Wahr­neh­mung ist gegen­ständ­lich und sinn­er­füllt. Sie läßt sich nicht auf eine nur reiz­mäßi­ge Grund­lage redu­zieren. Wir nehmen nicht Em­pfin­dungs­bün­del und nicht Struk­turen wahr, sondern Gegen­stände, die eine be­stimm­te Be­deu­tung haben.

Praktisch ist für uns gerade die Be­deu­tung des Gegen­stan­des wesent­lich, weil sie seine Ver­wend­bar­keit kenn­zeich­net: Die Form hat keinen eigen­ständi­gen Wert. Sie ist in der Regel nur wichtig als Merk­mal für die Er­kennt­nis des Gegen­standes in seiner Be­deu­tung, das heißt für die Er­kennt­nis seiner Be­ziehungen zu an­de­ren Dingen und seiner Ver­wend­bar­keit. … Da die Wahr­neh­mung des Men­schen ein Be­wußt­werden des Gegen­standes ist, schließt sie nor­ma­ler­weise den Akt des Ver­stehens und der Sinn­er­füllung ein. Die Wahr­neh­mung des Menschen um­schließt die Ein­heit des durch die Sinne Ge­gebe­nen und des Logi­schen, des durch die Sinne Ge­gebe­nen und des Sinn­vollen, der Em­pfin­dung und des Den­kens.

Der sinnliche und der sinn­volle Inhalt der Wahr­neh­mung sind dabei nicht ein­ander neben­ge­ordnet. Der eine baut sich nicht äußer­lich auf dem anderen auf. Sie be­dingen und durch­dringen sich wech­sel­sei­tig. Vor allem stützt sich der Sinn­ge­halt, die Be­deu­tung des Gegen­standes, auf den sinn­lichen Ge­halt, geht von ihm aus und ist nichts anderes als die Sinn­er­füllung des ge­gebe­nen sinn­lichen In­halts. (Rubinstein 1958, 319, tw. zit. in SE 25)

Gegenstandsbedeutung heißt … Be­deu­tung im Zu­sammen­hang mit der mensch­li­chen Lebens­tätig­keit. Ein Hammer bei­spiels­weise ist nicht le­dig­lich In­be­griff einer be­stimm­ten Form und be­stimmt ge­arte­ten Farbig­keit, sondern eine kom­plexe gegen­ständ­liche Be­deu­tungs­ein­heit, in die ein­geht, daß er von Men­schen ge­macht ist, daß er zum Schla­gen da ist, wie man am bes­ten mit ihm trifft, daß man mit ihm vor­sich­tig sein muß u.v.a., wobei all dies ein­heit­liches und ein­deu­tiges Gesamt­cha­rak­te­ris­ti­kum des Ham­mers als eines wirk­lichen, wahr­nehm­baren Dinges ist. …

Gegenstandsbedeutungen werden nicht vor­ge­stellt oder ge­dacht, sie werden im eigent­lichen und engsten Sinne wahr­ge­nommen. Die gegen­ständ­liche Be­deu­tungs­haf­tig­keit ist keines­wegs von der sinn­lichen Prä­senz und dem Em­pfin­dungs­cha­rak­ter der Wahr­nehmungs­ge­geben­heiten zu tren­nen. …

Die Feststellung, daß die Gegen­stands­be­deu­tung nicht zu den figural-quali­ta­tiven Merk­malen hin­zu­kommt oder um­ge­kehrt, ist so wört­lich wie mög­lich zu neh­men. Die figu­ral-quali­ta­tiven Eigen­arten eines Wahr­nehmungs­tat­be­standes machen viel­mehr seine Gegen­stands­be­deu­tung aus. Der Ham­mer dort ist nichts anderes als eben jenes Ding mit dieser be­stimm­ten figural-qua­li­ta­tiven Be­schaffen­heit. Die ge­sonder­te He­raus­hebung der figural-qua­li­ta­tiven Ei­gen­tüm­lich­kei­ten ist nicht Er­geb­nis eines un­mittel­baren Hin­sehens, son­dern Er­geb­nis einer Ab­strak­tion von der Gegen­stands­be­deu­tung, die gleich­wohl der ding­liche Träger der figural-quali­ta­tiven Mo­mente bleibt. (SE 25f)

Auch scheinbar sinnliche Be­dürf­nisse sind somit über die Aus­rich­tung der sinn­lichen Wahr­neh­mung auf die ge­sell­schaft­liche Ein­be­zogen­heit bzw. Ver­wend­bar­keit bereits in hohem Maße produk­tiv, was sich wiede­rum in der später kriti­sierten Spal­tung zwischen Produk­tion und Kon­sum­tion im ge­sell­schaft­lichen Prozess wider­spiegeln wird.

Die produktive Dimension der Bedürf­nisse um­fasst also nicht bloß, ob der bewertete Zu­stand an sich dauer­haft, wieder­kehrend bzw. von mir* be­ein­fluss­bar ist, son­dern auch, wie er sich auf meine* Hand­lungs­fähig­keit ins­ge­samt aus­wirkt, ob der Zu­stand des Be­dürf­nisses und die ge­wähl­ten Mit­tel zu seiner Er­fül­lung also meine* Hand­lungs­fähig­keit auch in Bezug auf meine* ander­weiti­gen Lebens­um­stände er­weitern oder ein­schränken, sprich, ob ich* mit diesem Zu­stand etwas an­fangen kann.

8.3.1 Notwendigkeit einer verbindungsorientierten Bedürfniskonzeption

Die Kritische Psychologie nimmt den Stand­punkt des Sub­jekts ein und setzt sich da­durch von der tradi­tio­nellen Psycho­lo­gie ab, welche einen fremd­be­stimmen­den Außen­stand­punkt zum Subjekt ver­tritt. Wie in Kapitel 3 her­vor­ge­hoben wird, nimmt zu­mindest Holz­kamp dabei aber letzt­lich eine sehr indi­vidua­lis­tische Welt­sicht ein, was sich in aller Deut­lich­keit in dem Apriori der Indi­vidual­wissen­schaft zeigt, daß der Mensch sich nicht be­wußt scha­den kann (GdP 350, zit. in GL Kap. 11.1).

An diesem Dogma, welches doch un­mittel­bar die Frage Auch nicht zum Wohle ande­rer? aufwirft, wird deut­lich, dass die Holz­kamp­sche Be­dürf­nis­kon­zep­tion eine rein indi­vidu­elle ist, dass der Mensch bloß eige­ne Be­dürf­nisse habe und nach eigenen Be­dürf­nissen handele.

Dies ist mit der Inklu-Philo­so­phie nicht ver­ein­bar, die eine Welt­sicht vom Stand­punkt der Ver­bin­dung an­strebt. Men­schen können nicht bloß nach ei­ge­nen Be­dürf­nis­sen handeln, sondern auch nach Be­dürf­nissen ande­rer; und oft­mals lässt sich gar nicht klar zwischen mei­nen* und eu­ren* Be­dürf­nis­sen dif­fe­ren­zieren, so­dass die sinn­vollste Be­trach­tungs­weise darin be­steht, dass wir* nach ge­mein­samen Be­dürf­nissen handeln.

Bedürfnisse von Verbindungen ausgehend zu betrachten stellt aber nicht bloß eine andere theoretische Sichtweise dar, sondern erfüllt selbst bereits ein menschliches (Meta-)Bedürfnis, danach, dass sich Bedürfnisse in Verbindungen manifestieren, und ist somit wegweisend für die Konzeption der Utopie. Denn Menschen, und ausschließlich Menschen, sind biologisch angepasst, sich an ge­mein­schaft­lichen Ak­ti­vi­täten mit ge­mein­sa­men Zie­len und ge­sell­schaft­lich koor­di­nier­ten Hand­lungs­plä­nen zu be­tei­li­gen (gemeinsame Intentionen). Interaktionen dieser Art setzen nicht bloß Verständnis von Zielen, Absichten und der Wahrnehmung anderer Personen voraus, sondern zusätzlich auch eine Motivation, diese Dinge in Interaktion mit anderen zu teilen[.][3] (Tomasello et al 2005)

8.3.2 Relative und absolute Verbindungsbedürfnisse

Wir unterscheiden daher Indi­vidual­be­dürf­nisse und Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse, und wir tun dies gleich auf zwei Ebenen, näm­lich auf Ebe­ne des Indi­viduums und auf Ebene der Ver­bin­dung, wobei wir im ersten Fall von abso­luten und in letzte­rem von rela­tiven Indi­vidual- bzw. Ver­bin­dungs­be­dürf­nissen spre­chen.

  • Auf Individuums-Ebene, also in abso­luter Be­deu­tung, be­zeich­nen Indi­vidual­be­dürf­nisse nur solche Be­dürf­nisse, die unab­hängig von all meinen* Ver­bindungen exis­tieren.
  • Im rela­tiven Sinn, also auf Ver­bin­dungs­ebene (d.h. be­zogen auf eine be­stimmte Ver­bin­dung), sind Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse die­jeni­gen Be­dürf­nisse, die ohne die kon­krete Ver­bindung nicht exis­tieren würden, und Indi­vidual­be­dürf­nisse ent­sprechend alle an­deren Be­dürf­nisse der Be­teilig­ten, welche dann aus Sicht des Indi­viduums wiederum größten­teils abso­lute Ver­bindungs­be­dürf­nisse sind, nur eben aus anderen Ver­bindungen.

Relative Individual­be­dürf­nisse schlie­ßen also stets die abso­luten Indi­vidual­be­dürf­nisse mit ein, und abso­lute Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse schlie­ßen die rela­tiven Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse ein.

Bezüglich der originären (d.h. un­mit­tel­bar ge­ge­be­nen, nicht von ande­ren Be­dürf­nissen ab­ge­lei­te­ten) Be­dürf­nisse soll hier fol­gen­de These ver­tre­ten wer­den: Absolute Individual­be­dürf­nisse sind nur die körper­lichen (sinnlich-vitalen) Be­dürf­nisse sowie das abstrakte Be­dürfnis nach Ver­bun­den­heit als solches. Alle sonsti­gen (produk­tiven) Be­dürf­nisse sind ent­sprechend (abso­lute) Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse, also Be­dürf­nisse, die erst durch Ver­bindung ent­stehen und in die Verbindung ge­hören, d.h. ihren vollen Be­friedi­gungs­wert nur ent­falten kön­nen, wenn sich auch in der Ver­bin­dung er­füllt wer­den. Anders aus­ge­drückt: Außer­halb von Ver­bin­dungen haben Be­dürf­nisse (bis eben auf das Be­dürf­nis nach Ver­bin­dung) keine produk­tiven As­pekte. Alle produk­tiven Aspekte un­serer* Be­dürf­nisse sind Ver­bin­dungs­as­pekte, ge­hören in eine Ver­bin­dung.

Da die Er­fül­lung in der zu­ge­höri­gen Ver­bin­dung im Exklu-System in aller Regel nicht mög­lich ist, wer­den Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse als Be­dürf­nisse des In­di­viduums miss­ver­stan­den bzw. so ge­lernt, ver­klärt, re­inter­pre­tiert; die Indi­vidual­sicht wird sys­temisch auf­ge­zwungen. Das Be­dürf­nis nach be­friedi­genden Be­ziehungen er­scheint dann als eins von vielen Be­dürf­nissen des … Indi­viduums. Soli­darische Be­ziehungen, freie und gleiche Asso­zia­tionen, stel­len aller­dings kein Be­dürf­nis dar, das den Indi­viduen ledig­lich noch hinzu­ge­fügt werden müsste. Statt­dessen be­friedi­gen die Men­schen in der wirk­lichen Ge­mein­schaft ihre zen­tralen Be­dürf­nisse in und durch ihre Asso­zia­tion. (BR 271)

Bis auf die sinnlich-vitalen Bedürf­nisse und das all­ge­meine Be­dürf­nis nach Ver­bun­den­heit hat das (rein hypo­theti­sche) iso­lierte Indi­viduum also keine kon­kreten (originären) Be­dürf­nisse, son­dern solche exis­tieren nur in Ver­bindung, und in jeder Ver­bindung hat das Sub­jekt eine sepa­rate Be­dürf­nis­welt. Ich* er­fülle in jeder Ver­bin­dung eine (wie weit auch immer ge­fasste) Rolle, die ein eige­nes Uni­versum an Wollens­dis­po­si­tionen mit sich bringt; ich* habe dort also sepa­rate Be­dürf­nisse, sowohl was mein* Be­streben als auch was mein* Be­finden an­geht.

Vor diesem Hintergrund ist die über­wiegen­de Er­schei­nung der Be­dürf­nisse im Ka­pi­ta­lis­mus in Form von Indi­vidual­be­dürf­nissen als ge­sell­schaft­lich konstru­iert zu ent­lar­ven: Es wird hier so getan, als wären sämt­liche Be­dürf­nisse nach kon­kreten Dingen bzw. Hand­lungen be­reits in den In­di­vi­duen vor­han­den, und diese würden mit ihren Be­dürf­nissen bloß (auf dem Markt) zu­sammen­treffen, um dort ent­sprechen­de Be­ziehungen ein­zu­gehen, wo ihre Be­dürf­nisse zu­ein­ander pas­sen. Dies ist aber keine na­tür­liche Ge­stalt der Be­dürf­nisse, son­dern es ist den Men­schen ledig­lich auf­ge­zwungen, ihre Be­dürf­nisse so dar­zu­stellen.

8.3.3 Herausbildung von Verbindungsbedürfnissen

Bedürfnisse in Verbindung werden durch die Wün­sche und Vi­sio­nen der Indi­viduen be­dingt (siehe gleich). Sie bilden sich in ihrer zu­tiefst ei­ge­nen Form aber erst durch die spe­zielle so­zia­le Dy­na­mik ab, die sich erst in der Ver­bin­dung (und ihrer Ver­mitt­lung) entwickelt. Sie können damit viel­fäl­ti­ger Na­tur sein und sich auf Dinge be­ziehen, die nie­mand der Be­tei­lig­ten sich allein hätte vor­stel­len kön­nen. Von daher ist es un­mög­lich, von den Indi­viduen aus­gehend ab­schlie­ßend vor­her­zu­sagen, was sie wohl für Be­dürf­nisse in Ver­bindung ent­wickeln würden.

Die relativen Individual­be­dürf­nisse sind Be­dürf­nisse in anderen Ver­bin­dungen und be­stimmen mit über die ge­mein­samen Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse. Die Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse zer­fallen aber des­halb nicht – auch nicht teil­weise – in Indi­vidual­be­dürf­nisse aus ande­ren Ver­bin­dungen, son­dern sie er­halten (im doppel­ten Sinne) stets ihre höchst eige­ne Quali­tät.

Die konkrete Natur des Bedürf­nisses hängt also stets von der so­zia­len Dy­na­mik der Ver­bin­dung ab. Es lassen sich je­doch einige Be­dürf­nisse fest­machen, die sich bei ge­schick­ter Ver­mitt­lung defini­tiv heraus­bilden würden: Wo die Indi­vidual­be­dürf­nisse inklu­sions­logisch zu­sammen­passen, wird sich auch ein ent­sprechen­des Ver­bin­dungs­be­dürf­nis bilden; die (passen­den) Indi­vidual­be­dürf­nisse werden also, sobald das gegen­seiti­ge Be­wusst­sein für sie ent­steht, zu Ver­bin­dungs­be­dürf­nissen auf­ge­hoben.

Wenn ich* also meine* Bedürfnisse im Ein­klang mit eu­ren* er­füllen kann und wir* uns* da­rü­ber be­wusst werden, dann haben wir* fortan nicht mehr bloß unsere* (kom­pa­ti­blen) Indi­vidual­be­dürf­nisse, son­dern wir haben auto­ma­tisch das kon­kretere Ver­bin­dungs­be­dürf­nis, unsere* Be­dürf­nisse auch genau auf diese Weise, also in Ver­bin­dung zu er­füllen (ein Be­dürf­nis, wel­ches das System uns oft­mals zwingt, zu un­ter­drücken).

Ein Ver­bin­dungs­be­dürf­nis kann un­ter­schied­lich stark kon­kre­ti­siert sein, d.h. auf der einen Seite auf eine recht klar be­stimmte Tätig­keit bzw. Er­fahrung ge­richtet sein, und auf der ande­ren Sei­te erst noch auf die ge­mein­same Explo­ra­tion des Be­dürf­nisses selbst (eben­so wie seine Er­schei­nungs­form als Wunsch auf Seite des Indi­viduums, die in Kürze dis­ku­tiert wird).

8.3.4 Zwischenfazit

Das Konzept Bedürfnis in Ver­bin­dung er­mög­licht uns eine völ­lig neue Sicht­weise so­wohl auf Be­dürf­nisse als auch auf Ver­bin­dungen: Be­dürf­nisse sind dem­nach nicht et­was, das ich* will, son­dern es gibt immer ein wir*, das will; selbst wenn das Sys­tem letzt­lich nur eine Be­frie­di­gung in Ver­ein­ze­lung er­laubt.

Verbindungen, auf der anderen Seite, ha­ben nicht bloß Be­dürf­nisse; die Be­dürf­nisse der Ver­bin­dung sind die Ver­bin­dung. Dies aller­dings nicht nach dem üb­li­chen Ver­ständ­nis von ge­mein­sa­men Zielen, die zu­sammen­halten – denn solche wären als re­la­tive Indi­vidual­be­dürf­nisse der Ver­bin­dung äußer­lich und würden die Ver­bin­dung zu einer reinen Zweck­ver­bin­dung de­gra­dieren –, sondern nur inner­halb der Ver­bin­dung ist das ge­mein­same Be­dürf­nis als solches real und kon­sti­tu­iert somit eine durch die Ver­bin­dung ein­zig­arti­ge Lebens­quali­tät;

8.3.5 Beispiele

Um das Prinzip Bedürf­nisse in Ver­bin­dung zu ver­an­schau­lichen, nehmen wir wieder mal ein Extrem­bei­spiel: Die Markt-Bezie­hung, wobei hier zuerst der Ar­beits­markt, und dann der noch ex­tremere Fall des Waren­marktes be­trach­tet werden soll.

Arbeitsmarkt

Nehmen wir also an, ich* nehme eine Lohn­ar­beit auf, und zwar nicht aus Spaß an der Sache, son­dern weil ich* das Geld brauche. Dann wird zwi­schen mir* und euch* als Arbeit­geben­den (womit das ge­samte Ar­beits­um­feld ge­meint ist) sicher­lich keine sonder­lich tiefe Ver­bin­dung be­stehen; wir* tref­fen zu­sammen, nicht vor­rangig zur Be­friedi­gung ge­mein­samer (Ver­bin­dungs-)Be­dürf­nisse, son­dern mit je un­seren* re­la­tiven Indi­vidual­be­dürf­nissen: Meinem* Bedürf­nis nach Geld, und eurem* Bedürf­nis nach meiner* Ar­beits­leis­tung.

Trotzdem ist unsere* Beziehung bei wei­tem nicht ver­bin­dungs­los: Wir teilen prin­zi­piell auch ge­mein­same In­teressen, näm­lich die an der Qua­li­tät meiner* Arbeits­leis­tung; dabei re­sul­tiert euer* In­te­resse pri­mär aus dem Wert der Leis­tung für das Un­ter­nehmen, und meins* pri­mär aus der Stei­ge­rung meines* An­sehens und meiner* Karriere­chancen. Das ge­mein­same In­te­resse re­sul­tiert aber teil­weise (hoffent­lich) auch aus ge­mein­samen Grün­den, wie der Be­geis­te­rung für das Fach­ge­biet, bzw. zu­min­dest dem (durch unsere* Com­muni­ty kon­stru­ierten) Sinn für die gute Leis­tung. In­so­weit stellt die Ar­beits­leis­tung hier ein Ver­bin­dungs­be­dürf­nis dar: Ein Be­dürf­nis, das ohne die Ver­bin­dung nicht exis­tieren könnte, und nur in der Ver­bin­dung be­frie­digt werden kann.

Das Inklu-Potenzial besteht also in dem Be­dürf­nis nach Geld und Kar­riere auf der einen und dem nach Ver­wer­tung der Ar­beits­leis­tung auf der anderen Sei­te, die durch die Or­ga­ni­sa­tion von Unter­nehmen und Ar­beits­markt in­so­weit kom­pa­ti­bel sind, als dass Ar­bei­ten­de bei gut ver­wert­barer Ar­beits­leis­tung mit Auf­stiegs­chancen zu rech­nen haben. Das Ver­bin­dungs­be­dürf­nis ent­steht dann durch die Leis­tungs­kultur, bei der Ar­bei­ten­de und Ar­beit­geben­de das Be­dürf­nis nach guter Ar­beits­leis­tung als ge­mein­sames Be­dürf­nis adap­tieren. Rea­li­siert werden kann das Inklu-Po­ten­zial dann aber nur, soweit es den Ar­bei­ten­den tat­säch­lich mög­lich ist, ihr Leis­tungs­po­ten­zial zu ent­fal­ten.

Wird das Arbeitsverhältnis beendet und ver­suche ich*, die­selbe Qua­li­tät, die ich* dort ge­lernt habe, in einem neuen Arbeits­ver­hält­nis bei­zu­be­halten, dann hängt die da­durch er­reich­bare Be­friedi­gung davon ab, wie sehr die neuen Ar­beit­ge­ben­den mit der ur­sprüng­lichen Com­muni­ty ver­bunden sind, bzw. wie sehr sie Teil der alten Ver­bin­dung sind; denn dies be­stimmt da­rüber, wie­weit ich* das Be­dürf­nis aus der Ver­bin­dung in der Ver­bin­dung an­statt in re­la­ti­ver Ver­einze­lung er­füllen kann.

Warenmarkt

Auf dem Waren­markt ist die Si­tua­tion noch ex­tremer, da hier zwar auch – aus offen­sicht­lichen Grün­den – die Ver­kaufen­den und ich* ein ge­mein­sames Be­dürf­nis nach einer hohen Quali­tät des Pro­duktes haben, ich* hierauf aber dies­mal kaum Ein­fluss neh­men kann. Diese An­sicht lässt sich rela­ti­vieren, wenn wir all die ande­ren Kaufen­den in die Ver­bin­dung mit ein­be­ziehen – diese haben ja gleicher­maßen ein Be­dürf­nis an der Qua­li­tät des er­wor­be­nen Pro­duk­tes. Dann kann ich* sehr wohl, z.B. durch das Ver­fassen einer Re­zen­sion, Ein­fluss auf die Qua­li­tät neh­men. Diese dient zu­gleich na­tür­lich auch den Ver­kaufen­den als Feed­back und somit glei­cher­maßen ihrem Be­dürf­nis nach Ver­besse­rung des Pro­duk­tes oder des Service.

Aber auch die Konkurrenz kann in die Ver­bin­dung mit ein­be­zogen wer­den; auch sie ist an einer ent­sprechen­den Ver­besse­rung ihrer Pro­dukte in­te­res­siert, und ich* ebenso, da ich* ja statt­dessen bei ihnen kaufen könn­te; und auch sie pro­fi­tieren von dem (öffent­lich sicht­baren) Feed­back an die Ver­kaufen­den.

Die Verbindung so gedacht, wird klar: Das Be­dürf­nis (nach der Quali­tät gleich­artiger Pro­dukte im all­ge­meinen sowie den be­sonde­ren Fea­tures des von mir* aus­ge­suchten Mo­dells) würde ohne die Ver­bindung nicht exis­tieren, und es kann nur in der Ver­bindung be­friedigt werden.

Werbung

Und selbst wenn ich* mich* als Individuum in Ver­einze­lung be­finde und einen Werbe­spot sehe, der bei mir* ge­wisse Be­dürf­nisse aus­löst, die sich grob zu­sammen­ge­fasst als Bedürf­nis nach dem be­worbe­nen Pro­dukt be­schrei­ben las­sen, so han­delt es sich hier­bei den­noch um Be­dürf­nisse in Ver­bin­dung. Die Ver­bin­dung be­steht mit den Men­schen, die sich das Pro­dukt und den Werbe­spot aus­ge­dacht haben, denn sie werden das ja (auch) getan haben, weil sie auf gewisse Weise die­sel­ben Be­dürf­nisse em­pfin­den, und sie haben es ge­schafft, diese Be­dürf­nisse mir* gegen­über an­sprechend zu kom­mu­ni­zieren und zu ver­mitteln. Zwar hatte ich* per­sön­lich bei der Ent­stehung dieser Be­dürf­nisse nichts mit­zu­reden, den­noch war ich* irgend­wie in ver­allge­meiner­ter Weise daran be­tei­ligt, da Produkt und Werbe­spot ja nur ent­wickelt wurden, weil es Leute wie mich gibt. Die Ver­bin­dung besteht daher auch gleich­zeitig mit all den anderen Men­schen, für die der Werbe­spot ge­macht war und die sich durch ihn an­ge­sprochen fühlen (sollen).

Somit existiert das Bedürfnis nur in Ver­bin­dung; das heißt aber noch nicht, dass es auch in Ver­bin­dung be­frie­digt werden kann, und ge­rade das ist ja hier nicht der Fall: Daran hindern uns* (also die Werbe­treiben­den und die durch die Werbung an­ge­sproche­nen Men­schen) die sys­te­mi­schen Zwänge, ins­be­sondere das Pri­vat­eigen­tum und die Ver­wer­tungs­logik der Kon­zerne; ich* kann nicht ge­mein­sam mit den Werbe­treiben­den an der Er­füllung un­serer ge­mein­samen (durch den Werbe­spot ver­mittel­ten) Be­dürf­nisse ar­bei­ten (also z.B. ein Pro­dukt wie das be­worbene her­stellen), und wir* können nicht ge­mein­sam in den Ge­nuss dieser Er­füllung kom­men, ob­wohl wir doch alle die­selben Be­dürf­nisse ha­ben; Nur der Kon­zern pro­du­ziert (ver­ein­zelt), und nur ich* kann mich – höchs­tens ver­ein­zelt – einer somit ver­kümmer­ten Ver­sion der Be­dürf­nis­be­friedi­gung zu­wenden, und selbst hier­für wird eine (mone­täre) Gegen­leistung er­presst.

Dass es sich um ein Bedürfnis in Ver­bin­dung han­delt, be­deutet nicht, dass es über­haupt nicht in Ver­einze­lung be­frie­digt werden kann; die Be­friedi­gung muss dann aber immer auf einem pre­kären, ver­kümmer­ten Ni­veau ver­bleiben.

Nachdem wir allgemein Bedürf­nisse in Ver­bin­dung de­fi­niert ha­ben, wollen wir uns nun an­schauen, wie sich diese Be­dürf­nisse für das In­di­viduum dar­stellen, also für die Be­teilig­ten, wenn sie sich nicht in der Ver­bindung be­finden. Ihnen er­scheinen die Be­dürf­nisse dann als abge­leite­te Indi­vidual­be­dürf­nisse, wel­che sich im Kon­kreten in Form von Wün­schen, Zie­len oder Vi­sionen dar­stellen kön­nen.

8.4.1 Abgeleitete Individualbedürfnisse

In abgeleiteter Form werden die Be­dürf­nisse als Indi­vidual­be­dürf­nisse er­lernt und in Bezug auf andere Ver­bindungen ge­ne­ra­li­siert. Diese ab­ge­leite­ten Indi­vidual­be­dürf­nisse resul­tieren aus einer Er­war­tungs­bildung im Hin­blick auf das Indi­vidual­be­dürfnis nach Ver­bun­den­heit auf­grund der durch Ver­fol­gung der Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse er­lern­ten Kom­pe­tenzen. Wir hatten dies zu­letzt am Bei­spiel der Lohn­arbeit ge­sehen, wo das Leis­tungs­be­dürf­nis und das Be­dürf­nis nach einer ent­sprechen­den Leis­tungs­kul­tur beim Indi­viduum auch nach Be­endi­gung des Be­schäfti­gungs­ver­hält­nisses er­halten und dessen Er­füllung im neuen Ver­hältnis ge­sucht wird, und kon­sta­tiert, dass das Aus­maß der Er­füllung davon ab­hängen muss, wieweit es noch in der­selben Ver­bindung er­füllt werden kann, also die Kul­turen mit­einander ver­bunden sind und ich* damit trans­perso­nal zu den ur­sprüng­lichen Ar­beit­gebenden ver­bun­den bin.

Prinzipiell braucht das Verbindungs­be­dürf­nis nicht selbst er­lebt zu wer­den, son­dern es reicht, zu wis­sen, dass es sich um ein ty­pi­sches Ver­bin­dungs­be­dürf­nis han­delt, um zur Kom­pe­tenz­ent­wick­lung zu mo­ti­vieren, um die all­ge­meine Ver­bin­dungs­fähig­keit zu si­chern. Es ist ja aber davon aus­zu­gehen, dass ge­rade auf sol­che Kom­pe­tenzen hin trai­niert wird, mit denen ich* mich* be­son­ders gut iden­ti­fi­zieren kann, die ich* also be­reits als Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse adap­tiert habe. In­so­fern wäre diese Vor­be­rei­tung auch be­reits als Stre­ben nach Er­füllung be­stehen­der Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse zu wer­ten.

Ich* habe dann (sofern nicht tat­säch­lich ein ent­sprechen­des Ver­bin­dungs­be­dürf­nis be­steht) ein ab­ge­lei­te­tes Be­dürf­nis da­nach, dass in der einer kon­kre­ten Ver­bin­dung (hier den neuen Arbeit­geben­den) oder in meinen* Ver­bin­dungen im All­ge­meinen ge­wisse Dinge ge­schehen, weil das eben Dinge sind, mit denen ich* schon ver­traut bin und gut um­gehen kann. Hier­bei han­delt es sich aber nicht um ein ori­gi­näres Be­dürfnis, sondern bloß um ein Mit­tel zum Zweck meines allge­meinen Indi­vidual­be­dürf­nisses nach Ver­bunden­heit, da ich* nur Ver­bunden­heit er­fahren kann, wenn ich* auch in der Lage bin, zur Er­füllung der Be­dürf­nisse in Verbindung bei­zu­tragen.

Wie angesprochen, können Bedürf­nisse unter­schied­lich stark kon­kreti­siert sein. Für die Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse galt dies, weil das Be­dürf­nis auch gerade erst in der gemein­samen Er­forschung des Be­dürf­nisses lie­gen kann; bei ab­ge­lei­te­ten Indi­vidual­bedürf­nissen ist dies hin­gegen der Fall, da sie bloß Mit­tel zum Zweck der Ver­bunden­heit an sich dar­stellen und als sol­che von Natur aus nicht kon­kret zu sein brau­chen.

8.4.2 Visionen

Visionen sind konkret, zie­len aber nicht auf ihre tat­sächli­che Er­füllung ab. Es han­delt sich da­bei um kon­krete Vor­stellungen der Reali­sierung von Ver­bindungs­be­dürf­nissen, die aber als solche (noch) gar nicht exis­tieren müs­sen, und so­lange kann in dem Sin­ne auch nicht davon die Rede sein, dass die Reali­sierung einer Vi­sion ein Be­dürfnis dar­stellt. Vi­sionen sind also nicht selbst Be­dürf­nisse, sondern stel­len einen Teil der Kom­pe­tenz zur ge­mein­samen He­raus­bildung von Be­dürf­nissen in Ver­bindung dar.

Die Visionen der Einzelnen er­halten ihren Wert schließ­lich erst da­durch, dass ihnen ein so­zialer Kon­text (die Ver­bin­dung) hinzu­ge­fügt wird, der selbst noch nicht in ihnen ent­halten ist, wobei die Vi­sion hier selbst mehr oder weniger be­deut­sam sein kann, der Wert also auch aus­schließ­lich in dem noch aus­zu­füllen­den so­zia­len Kon­text liegen kann. Das kon­krete Be­streben rich­tet sich auf das Ge­schehen, wie es tat­sächlich statt­findet, also in der kon­kreten Ver­bin­dung; wie und wa­rum dieses Ge­schehen er­strebens­wert ist, kann sub­jek­tiv ver­schieden inter­pre­tiert werden, aber aus Inklu-Pers­pek­tive exis­tieren tat­sächlich inter­sub­jek­tive Gründe, warum es aus Sicht der Ver­bin­dung er­stre­bens­wert ist (bzw. nicht ist).

Eine Vision stellt also einen Plan zur Reali­sierung eines Ver­bin­dungs­be­dürf­nisses dar, falls es denn so ent­stehen sollte, nicht aber einen Wunsch, dass solche Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse über­haupt erst ent­stehen. Dies ist jedoch in ge­wissem Aus­maß über die Kom­pe­tenz­be­dürf­nisse (also die oben er­wähn­ten Be­dürf­nisse, die eige­nen Kom­pe­tenzen nutzen zu kön­nen) stets der Fall, da Vi­sionen in­sofern eine Kom­pe­tenz dar­stellen, da das Ver­ständ­nis der Situa­tion und die eigene Hand­lung im Geis­te trai­niert wurden.

Es sei darauf hingewiesen, dass Kompetenz­bedürf­nisse nur in beschränktem Ausmaß aktiv realisiert werden können, da ihre Rea­li­sie­rung ja gerade außerhalb der Sphäre des Indi­viduums lie­gt. Ich* kann höchs­tens darauf hof­fen, in einen so­zia­len Kon­text hinein­zu­ge­ra­ten, wo ich der Ten­denz nach mei­ne Kom­pe­ten­zen (und da­mit auch meine Vi­sio­nen) ein­bringen kann; die (quasi er­zwunge­ne) Her­stel­lung eines sol­chen Zu­stands muss den er­ziel­ten Zu­stand aber zu meinem Zu­stand machen, der Na­tur seiner Ver­bun­den­heit ent­rei­ßen und damit in indi­vidua­lis­ti­scher Weise ver­kümmern lassen. Trotz­dem wäre es falsch zu sagen, dass die Reali­sie­rung dieser Be­dürf­nisse quasi von Natur aus ein by-product dar­stel­len muss (i.S.v. Jon Elster, siehe Fn. 1); viel­mehr wird dieses Be­dürf­nis durch die Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse über­la­gert, also un­wich­tig, so­weit tat­säch­liche Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse be­stehen. Soweit dies nicht der Fall ist, wäre aber von einer fort­schritt­lichen Ge­sell­schaft zu er­war­ten, dass sie ge­ra­de diese Be­dürf­nisse för­dert (indem sie hilft, ent­sprechen­de Ver­bindungen her­zu­stellen), wo­durch sie den­noch direkt ver­folgt wer­den kön­nen.

Auch in unserer Community haben sich be­stimmte Kol­lek­tiv­be­dürf­nisse ent­wickelt. In­dem ich dies hier schrei­be, trage ich gleich­zeitig zur For­mung und Er­füllung dieser Kol­lek­tiv­be­dürf­nisse bei, so­wie zu meinem ei­genen, all­ge­meinen Indi­vidual­be­dürf­nis­ nach Ver­bun­den­heit, so­wie meinen re­la­tiven In­di­vidual­be­dürf­nissen. Die Vi­sio­nen, die ich hier auf­schreibe, sind selbst noch nicht meine Be­dürf­nisse, ent­springen aber aus un­seren Kol­lek­tiv­be­dürf­nissen und den Be­dürf­nissen aus meinen an­deren Ver­bin­dungen, und da­durch auch meinen ab­ge­lei­te­ten In­di­vi­dual­be­dürf­nissen, da ich eben die Ge­dan­ken­gänge be­schrei­be, die für mich be­son­ders gut funk­tio­nie­ren, und es somit für mich er­leich­tern, mit euch in Ver­bin­dung zu tre­ten.

8.4.3 Ziele

Bei einem Ziel handelt es sich um eine Vi­sion, die nicht bloß hand­lungs­lei­ten­de Wir­kung hat, son­dern de­ren exak­te Um­setzung an­ge­strebt wird. Zie­le stel­len so­mit eine ver­kürz­te Sicht­weise dar, bei welcher das Han­deln nicht mehr an den ei­gent­lichen Be­dürf­nissen aus­ge­rich­tet wird, son­dern das Ziel einen Wert an sich dar­stellt.

Durch die Zielform können die Vor­stel­lungen eine Ei­gen­macht über die Men­schen ent­wickeln (Fe­ti­schi­sie­rung). Wer sich Zie­len ver­schreibt, ope­riert fortan auf einem ein­ge­schränk­ten (re­strik­tiven) Ni­veau der Denk- und Hand­lungs­fähig­keit, in­dem die Hin­ter­fra­gung der Zie­le sowie die Ein­be­ziehung der Be­dürf­nisse der­jeni­gen, auf de­ren Kos­ten die Ver­fol­gung des Ziels evtl. gehen könn­te, nicht mehr zur Dis­kussion steht.

Es ist sowohl die Individualisie­rung als auch die Fe­ti­schi­sierung, die an der Ziel­form pro­ble­ma­tisch sind. Da­bei folgt die In­di­vi­duali­sie­rung not­wen­di­ger­weise auch aus der Fe­ti­schi­sie­rung, denn wenn wir* zu­lassen, dass unsere Be­dürf­nisse erst in Ver­bin­dung noch ge­formt werden, dann können diese lo­gi­scher­weise noch nicht auf kon­kre­te Zie­le fi­xiert sein.

Ziele werden vermutlich unvermeid­bar sein, da sie eine Not­wendi­ge Heu­ris­tik auf­grund kogni­tiver Be­schränkt­heit dar­stellen, also not­wendiger­weise Teil der De­fi­ni­tion der Si­tua­tion (dis­ku­tiert in Ka­pi­tel 3) wer­den. Wich­tig ist aber, dass die Mög­lich­keit be­stehen bleibt, ein­mal ge­setz­te Zie­le wenn an­ge­mes­sen auf einer hö­he­ren Ebe­ne zu re­flek­tieren und dann ggf. auch eine Auf­he­bung zu Ver­bin­dungs­be­dürf­nissen zu­zu­lassen.

8.4.4 Wünsche

Anders als ein Ziel ist ein Wunsch eine Vor­stel­lung eines Ver­bin­dungs­be­dürf­nisses aus Sicht des Sub­jekts oder aus Sicht einer klei­ne­ren Ver­bin­dung, die Teil der grö­ßeren ist. Er ist nicht das Be­dürf­nis an sich und auch keine kon­kre­te Vor­stel­lung seiner Er­fül­lung, son­dern kann le­dig­lich hand­lungs­lei­ten­de Wir­kung zur Er­fül­lung tat­säch­li­cher Be­dürf­nisse an­neh­men. Ein Wunsch kann also nicht an sich, also durch das bloße Wirklich-Werden einer Vi­sion, rea­li­siert werden.

Bei der Wunschform wird in jeder Ver­bin­dung mit­ge­dacht, dass sie Teil grö­ße­rer Ver­bin­dungen ist, und dass ihre Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse aus Sicht an­de­rer Ver­bin­dungen bloß Wünsche dar­stel­len kön­nen. Gegen­über an­de­ren Ver­bin­dungen ver­tre­ten die Sub­jek­te die Ver­bin­dungs­be­dürf­nisse als Wün­sche, sie die­nen dazu, sich an­hand des Kon­takts mit an­de­ren Ver­bin­dungen zu ent­wickeln: Die Be­dürf­nisse sind in der ur­sprüng­lichen Ver­bin­dung nicht fer­tig ge­formt, son­dern der For­mungs­pro­zess fin­det noch im Kon­takt der Sub­jekte (und ent­spre­chend der Ver­mitt­lung und Ver­ei­ni­gung, s. später) statt.

Dem Wunsch, zugleich als kommunikati­ves Mit­tel wie als Zu­gang zu den ei­ge­nen Be­dürf­nis­sen, wird aber nicht selten eine un­mittel­bare Be­dürf­nis­quali­tät zu­teil, in­dem näm­lich durch Kom­mu­ni­ka­tions­mög­lich­keit des Wun­sches die Ver­fü­gungs­mög­lich­kei­ten zur Be­frie­di­gung der tat­säch­li­chen Be­dürf­nisse her­ge­stellt wer­den und da­mit gleich­zei­tig ein in die­sem Sin­ne pro­duk­ti­ves Be­dürf­nis rea­li­siert wird.

Gegenüber Visionen und Bedürfnissen haben Wün­sche also das zu­sätz­liche be­frie­di­gen­de Ele­ment der Re­fle­xion über die Rea­li­sie­rungs­form: Be­dürf­nisse können sich auch in meiner* Wahl zwi­schen Alter­na­ti­ven zei­gen, die mir* spon­tan an­ge­bo­ten wer­den, wäh­rend einem Wunsch eine be­wusste selbst­ständig-kognitive For­mu­lie­rung voraus­geht.

Betrachten wir einmal, durch welche pro­duk­ti­ven Be­dürf­nis­se wir* im Falle der Er­fül­lung eines Wun­sches Be­frie­di­gung er­fah­ren kön­nen: Dies ge­schieht primär über das Wis­sen, das wir* über die Um­stände er­hal­ten, die zur Er­füllung des Wun­sches ge­führt haben, also da­durch, dass die Be­treffen­den kommu­ni­zieren, was es für sie be­deu­tet, aus wel­cher Moti­va­tion heraus sie den Wunsch er­füllt haben.

Unmittelbar bedeutsam ist zunächst, in­wie­fern die zu­grunde­liegen­de Moti­va­tion inklu­sions­logisch war, da dies ent­schei­dend für die Qua­li­tät der Ver­bin­dungen und das gegen­seiti­ge Ver­trauen ist. Dies steht im Zu­sammen­hang mit den in Ka­pitel 5 dis­ku­tier­ten Kon­zep­ten der Dis­po­si­tions­offen­barung und der Sp­ira­le des Ver­trauens­ver­lusts: Wenn ihr* euch* da­für auf­opfern muss­tet, meinen* Wunsch zu er­füllen, dann ist die vor­sor­gende Er­fül­lung meiner* Be­dürf­nisse geschwächt!

Hierbei ist natürlich zu berücksichtigen, dass nun auch die Kom­mu­ni­ka­tion des Be­dürf­nis­ses selbst mit ein­be­zogen wird, es also nicht bloß um die grund­sätz­liche Dy­na­mik der Ver­bin­dung geht, sondern auch da­rum, ob es ge­lingt, Indi­vidual­be­dürf­nisse als Wünsche zur He­raus­bildung von Ver­bin­dungs­be­dürf­nissen zu kom­mu­ni­zieren und dadurch Ex­klu­sions­ver­mei­dungs­stra­te­gien nicht bloß ihren naiven prag­ma­tischen Wert haben, son­dern der Er­hal­tung der Ver­bun­den­heits­qu­ali­tät gemein­samer Be­dürf­nisse die­nen.

Hinzu kommt aber auch der Aspekt der In­spi­ra­tion, in­so­weit die Mo­ti­va­tion und die kon­kre­te Aus­ge­stal­tung über die ei­gene Vor­stellung hi­naus­gehen und so das ei­gene Be­streben ver­ändern bzw. er­weitern; wir* ler­nen hier also neue er­strebens­werte Dinge ken­nen, was dem in Ka­pitel 1 auf­ge­führ­ten Ver­bin­dungs­typ über Em­pfeh­lungen ent­spricht. Bei Em­pfeh­lungen geht es also nicht darum, ein Indi­vidual­be­dürf­nis von einer Per­son auf eine an­dere zu über­tragen, son­dern um die He­raus­bildung eines Ver­bin­dungs­be­dürf­nisses auf Grund­lage eines In­di­vi­dual­be­dürf­nisses, was, wie später dar­ge­legt, zur voll­um­fäng­lichen Er­füllung dann auch die Ver­eini­gung der Ver­bin­dungen mit sich ziehen muss.

In dem Maße, wie die kon­krete Aus­ge­stal­tung tat­säch­lich die Er­war­tungen über­trifft, tritt dann eine doppel­te Be­friedi­gung ein, näm­lich nicht nur durch die Er­weite­rung des Be­stre­bens an sich, sondern auch da­durch, dass ja be­reits be­kannt ist, dass und aus welcher Moti­va­tion heraus den ande­ren die Er­füllung dieses Be­stre­bens nahe­ge­legt ist.

Schließlich ist noch ein ent­scheiden­der Punkt, dass auch ihr* durch die kon­krete Aus­ge­stal­tung einen Teil eures* eige­nen Be­strebens offen­bart – und zwar sehr wahr­schein­lich in inklu­sions­logi­scher Weise, da euch* mein* damit ver­bunde­nes Be­streben ja bereits be­kannt ist – und mir* so pro­duk­tive Mög­lich­kei­ten ver­schafft, eure* In­te­ressen zu­künf­tig noch besser mit ein­zu­be­ziehen.

Der Wunsch als abstraktes Konzept der Mani­fes­tie­rung von Be­streben kann nun auf all diese Ebe­nen in unter­schiedli­chem Aus­maß ab­zielen. Er kann ins­be­sondere auf sinnlich-vitaler Ebene ex­trem vage sein, um dafür eine Fülle an In­for­ma­tions­gewinn über Moti­va­tion und Be­stre­ben unserer* Ver­bin­dungs­menschen zu­zu­lassen.

Jon Elster setzt sich in seiner kriti­schen Dis­kussion der Vi­sionen von Karl Marx (MSM) unter ande­rem auch mit dem krea­tiven Schaffens­pro­zess aus­ein­ander, wel­cher einen inte­gralen Be­stand­teil des Le­bens jedes kommu­nis­ti­schen Indi­vi­duums dar­stellen müsse. Ihn be­schäf­tigt die Frage, wie weit die krea­tive Selbst­ent­fal­tung tat­säch­lich (indi­vidu­ell und für alle Men­schen) mög­lich wäre, und ob sie dann auch tat­säch­lich zur per­sön­lichen Er­füllung füh­ren würde (dies wird in Ka­pi­tel 15 noch aus­führ­lich dis­ku­tiert).

Schauen wir uns den gro­ßen Künst­ler oder Wis­sen­schaft­ler an, der im Lau­fe seines Le­bens tod­un­glück­lich ist, weil er einer­seits nicht anders kann, als zu tun, was er tut, aber an­derer­seits darun­ter leidet, den Stan­dard, den er sich selbst setzt, nicht er­reichen zu kön­nen. Es ist gerade seine große Schöpfungs­kraft und Er­kennt­nis, die ihn dazu be­fähigt, weit­aus mehr als andere zu er­kennen, wie weit seine Werke sein Ideal ver­fehlen. Sein Werk mag als ewi­ge Er­rungen­schaft der Mensch­heit fort­be­stehen, ob­gleich sein Leben durch sub­jek­tives Elend ge­prägt sein mag.[4] (MSM 86)

Die subjektive Unzufriedenheit rührt hier aber gera­de da­her, dass die Ideen der Krea­tiv­schaffen­den nicht von der Ge­sell­schaft auf­ge­griffen werden; das ver­geb­lich an­ge­streb­te Ideal ist eine Vor­stellung, die der Welt kom­mu­ni­ziert werden will, und die von dieser nach dem allge­meinen Prin­zip der Heraus­bildung von Be­dürf­nissen in Ver­bin­dung rea­li­siert werden soll; das Ideal (die Vision) ist also kein Indi­vidual­be­dürf­nis der*s Künstler*in, son­dern eigent­lich Trieb­kraft zur Ent­wick­lung eines Be­dürf­nisses in Ver­bin­dung mit ande­ren, ge­nau­so wie das Schöpfungs­be­dürf­nis selbst natür­lich kein Indi­vidual­be­dürf­nis ist, son­dern in Ver­bin­dung zu ande­ren exis­tiert, aber von den Schöpfen­den nur in Ver­einze­lung ver­folgt werden kann, und damit prekär be­frie­digt blei­ben muss. Es ist nicht das Wahr-Werden des Ideals, das die Kreativ­person an­strebt, son­dern das Ver­ständ­nis und Auf­greifen durch die Ge­sell­schaft, damit diese noch höhe­re Idea­le rea­li­sieren kann, als sie selbst sich er­den­ken könn­te.

Anders als Ziele, die exklu­sions­lo­gi­scher Natur sind, indem klar ge­winnt, wer die eige­nen durch­setzen kann, und ver­liert, wer nicht, kann mit einem Wunsch wesent­lich freier um­ge­gangen wer­den: Wir* können uns* fra­gen: Woher kom­men diese Wünsche? Welche Al­ter­na­tiven gibt es? usw.

Fußnoten

  1. Der Begriff des by-products wurde von Elster (SG, Kap. II) ein­ge­führt, um darauf auf­merk­sam zu machen, dass sich viele er­strebens­werte Zu­stände nicht da­durch her­stellen lassen, dass sie aktiv, willent­lich ver­folgt wer­den, son­dern bloß in­di­rekt durch die Ver­fol­gung eines ande­ren Ziels zu­stande kom­men. ↩︎
  2. Bei H.-Osterkamp ver­schwimmt diese ei­gent­lich recht kla­re Tren­nung, indem sie den sinnlich-vitalen Be­dürf­nissen neben den or­ga­ni­schen Be­dürf­nissen auch die Se­xual­be­dürf­nisse zu­rech­net bzw. zwi­schen einem Funk­tions­kreis Le­bens­sicherung und einem Funk­tions­kreis Fort­pflan­zung un­ter­scheidet (ebd: M II, 22f), wobei unklar bleibt, welche Be­dürf­nisse genau den je­weili­gen Funktions­kreisen zu­zu­rechnen wären. Von dieser Tren­nung und den einher­gehenden Kom­pli­ka­tionen soll hier ab­ge­sehen wer­den. ↩︎
  3. Engl. Orig.: [H]uman beings, and on­ly hu­man beings, are bio­logically adap­ted for par­tici­pa­ting in col­la­bo­rative ac­tivi­ties in­vol­ving shared goals and social­ly co­ordi­nated action plans (joint in­ten­tions). Inter­actions of this type re­quire not only an under­stan­ding of the goals, in­ten­tions, and per­cep­tions of other per­sons, but also, in ad­di­tion, a mo­ti­va­tion to share these things in inter­action with others[.] ↩︎
  4. Engl. Orig.: Consider the great ar­tist or scien­tist who through­out his life is des­pe­rate­ly un­happy, be­cause on the one hand he can­not help doing what he does, while on the other hand he suf­fers from not at­tai­ning the stan­dards he sets for him­self. It is pre­cise­ly be­cause of his great power and in­sight that he is capa­ble, far more than others, of see­ing how far his work falls short of that ideal. His work may re­main as a las­ting achieve­ment of hu­mani­ty, but his life may have been one of sub­jec­tive mise­ry. ↩︎

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